Josef Loretan – Sedimentation
Seit zehn Jahren dient der ehemalige Werkhofraum mit den angrenzenden Räumen unter anderem als Ausstellungsort. Josef Loretan bringt mit seiner Auslegeordnung den Werkhof zurück in den Kulturraum Alter Werkhof. Er schichtet Sandsäcke in den Raum und legt schlichte Halbkugeln aus Gips darauf. Seine Materialien –Sandsäcke und Gips – erinnern an die frühere, alltägliche Funktion des Ortes. Im Unterschied zu dieser Bezugnahme über das Material schafft Loretan mit dem geometrisch-strengen Raster seiner Installation einen Bruch mit den «schrägen» Wänden und fehlenden rechten Winkeln des Kulturraums.
Die Halbkugeln fertigt Loretan aus Gips, indem er Schicht für Schicht flüssigen Gips in eine Form giesst. Den Gips färbt er zuvor teils mit Farbpigmenten ein. Dadurch entstehen die verschiedenen Farbsedimente, die nur aussehen als wären sie aufgemalt. Dieser Unterschied im Arbeitsprozess ist genauso aufwändig wie bedeutsam. Schritt für Schritt wird das Objekt in Schichten aufgebaut und erhält teils durch den Zufall, der den Eigenschaften des Materials innewohnt, eine Eigendynamik.
Loretan kann mit den derart geschaffenen Halbkugeln vielfältige Assoziationen wachrufen: etwa die natürlichen Phänomene der Sedimentation – also der Ablagerung von Material –, die der Erde, der Landschaft, den Gebirgen ihr heutiges Aussehen gegeben hat; ebenso besteht ein Bezug zu künstlichen Schichtungen, wie wir sie in unserer Hightech-Gesellschaft in Verbundmaterialien finden; und selbst Geschichte funktioniert als kontinuierliche Ablagerung und stete Überlagerung. Die Präsentation der Halbkugeln auf Sandsäcken und schliesslich die Anordnung im Raum führt dieses Prinzip der Schichtung weiter. Schliesslich ist der Sand, mit dem die Säcke gefüllt sind, unferfestigtes Sedimentgestein und entsteht durch die Verwitterung von übereinander geschichteten Gesteinen.
Die Halbkugeln sind zwar Objekte der Bildhauerei, sie sind ganz traditionell durch den Guss von Gips entstanden. Indem Loretan Farbpigmente in den Gips einrührt, gehen die Objekte aber auch eine Verbindung mit der Malerei ein. Sie erinnern an die farbig gefassten Barockskulpturen, wie sie in Walliser Kirchen anzutreffen sind, oder an die Fresken der Hochrenaissance. Als Arrangement mehrerer Halbkugeln, wie hier im Alten Werkhof, werden die Halbkugeln schliesslich zur installativen Arbeit.
Loretan verwendet für die Präsentation seiner Halbkugeln nicht die üblichen schwarz, anthrazitfarben oder weiss bemalten Holzsockel wie man sie in Museen verwendet. Vielmehr macht er den Sandsack zum Sockel und hebt gleichzeitig den Sockel wieder auf, denn er kann genauso als Teil des Kunstobjektes angesehen werden. Die Grenzen sind zumindest auf den ersten Blick verwischt. Der Sockel als «Fundament» der Kunst wie er über Jahrhunderte seine Gültigkeit hatte, ist seiner Funktion enthoben. Anfang des 20. Jahrhunderts begannen Künstler wie Constantin Brancusi oder Jean Arp die Skulptur selbst zum Sockel zu machen. Seither beschäftigten sich zahlreiche Kunstschaffende mit der «Sockelfrage» bis hin zu Piero Manzoni der nur mehr ein Podest mit Fussabdrücken zeigt – die Skulptur selber ist entflohen. Die von Loretan verwendeten Sandsäcke sind aus schwarzen Plastikbändern gewoben und bergen damit etwas sehr Künstliches, gar von Hand Gefertigtes, wodurch ihr Kunstobjekt-Charakter noch mehr Aufmerksamkeit erregt.
Ein derartiger Umgang mit Materialien und Formen ist nicht neu für Loretans Schaffen. 2006 formte er aus Gips Scheiben mit reliefartigen konzentrischen Kreisen. Er liess dafür eine Schablone über den flüssigen Gips rotieren. Die Schablone hielt nichts anderes fest, als die Horizontlinie einer Walliser Bergkette. Natur und Landschaft waren Ausgangspunkt und -form, die durch einen schrittweisen Veränderungsprozess zu abstrakten Formungen führte. Eine ähnliche Vorgehensweise wandte Loretan 2008 an. Jetzt liess er verchromte Kuhglocken giessen, die in Form und Material an ein Designobjekt erinnern. Ihre eigenartige Form ist kein Zufall, vielmehr ist in ihr die Horizontlinie eines Alpenpanoramas eingeschrieben. Aus der natürlichen Linie produzierte Loretan ein edles, glänzendes Kunstobjekt. Für ein Projekt der Frankfurter Schirn Kunsthalle kreierte er Fahrradklingeln, wobei hier die städtische Horizontlinie – die Skyline – als Ausgangspunkt diente. Beide Linien, diejenige des Horizontes und diejenige der Skyline, bilden gewissermassen eine Grenze unserer Wahrnehmung. Zwar reicht unser Sehsinn viel weiter als der Tast- oder Geruchssinn, dennoch setzt der Horizont ihm definitiv einen Endpunkt entgegen und ist damit eng mit unserer Wahrnehmung verknüpft. Dieser Bezug zu Landschaft und Natur ist in der Installation der Halbkugeln immer noch unterschwellig präsent durch die Assoziation mit natürlichen Sedimentationen. Die Objekte sind aber vor allem abstrakte Formungen, die durch Wiederholung (der Form) und gleichzeitiger Abweichung (der Farbigkeit) eine sehr malerisch-rhythmische Installation bilden.
Dominik Imhof, Kunsthistoriker, Kunstvermittler am Zentrum Paul Klee